Im 20. Jahrhundert haben Frauen für Grundrechte gekämpft. Nachdem sie die Gleichheit im Gesetz erreicht haben, stellen sie heute das Patriarchat, die ungleiche Verteilung der Macht und der sozialen Rollen in Frage. Die ♯metoo Bewegung hat das Bewusstsein der Frauen geschärft, die aus der Illusion der Gleichberechtigung ausbrechen und den Wandel beschleunigen müssen. Feminismus steht also im Zentrum der heutigen Gesellschaft und beschäftigt viele Linguisten und Linguistinnen. Genderlinguistik ist „sehr allgemein gesprochen, ein sprachliches Verfahren, um Gleichberechtigung, d.h. die gleiche und faire Behandlung von Frauen und Männern im Sprachgebrauch zu erreichen“ (Diewald/Steinhauer 2017: 5). In diesem Artikel versuche ich, die linguistische Sicht auf das Gender darzustellen.


Sexus vs. Gender

In erster Linie muss das Gender von dem Sexus unterschieden werden (Vgl. Kotthoff, Nübling 2018: 14ff.). Sexus bezieht sich auf biologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Im Gegensatz dazu beschreibt das Gender die nicht-biologischen Merkmale der Menschen. Das Gender „bezieht sich auf das soziale Geschlecht, das heißt auf die gesellschaftlichen Rollen und Eigenschaften, die einer Person stereotypisch als Mann oder als Frau zugeschrieben werden“ (Diewald/Steinhauser 2017: 7). Die Farben sind ein Beispiel vom Gender in dem heutigen sozialen Kontext: Rosa für Frauen und Blau für Männer. Im 17. Jahrhundert war es genau das Gegenteil, wie es das Gemälde Les enfants Habert de Montmort von Philippe de Champaigne zeigt. Gender wird also sozial konstruiert und kann sich mit der Zeit ändern, was sich auf unsere Lebensweise auswirkt.

Les enfants Habert de Montmort von Philippe de Champaigne 1649.


Genderforschung

Die feministische Linguistik hat sich mit der Gründung der Frauenbewegung und der Frage der gesellschaftlichen Diskriminierung zwischen Männern und Frauen in den 70ern Jahren in den USA entwickelt (Vgl. Kotthoff, Nübling 2018: 17). Die Sprache wird zu mehr als nur einem Kommunikationsmittel und erlaubt es, soziale Unterschiede zu bilden. Geschlechtsdarstellungen werden nicht nur durch Kleidungen, Körperstilisierung, Berufe und Tätigkeiten produziert, sondern auch durch die Sprache (Vgl. Kotthoff, Nübling 2018: 18):

  • grammatisches Geschlecht
    1. Artikel: der, die, das;
    2. Pronomen: er, sie, es, jener, keine, welches;
    3. Adjektiv: ein silberner Löffel, eine silberne Gabel, ein silbernes Messer
  • lexikalisches, semantisches Geschlecht

z.B. Mutter, Schwester als weiblich und Vater, Bruder als männlich.

==> Als Zwischenfazit kann man daher ableiten, dass es das biologische, soziale und sprachliche Geschlecht gibt.


Movierung

Im Deutschen bildet die Movierung „die feminine Entsprechung zu einem maskulinen Substantiv“ (Fleischer/Barz 2012: 236ff.) und erlaubt daher, weibliche Personenbezeichnungen besonders für Berufsbezeichnungen zu bilden. Es gibt verschiedene Derivationen, die als Ziel haben, eine Genusänderung für weibliche Personenbezeichnungen zu erzeugen.

Das Suffix -in stellt die produktivste Movierung dar und spielt eine wichtige Rolle spezifisch für Berufsbezeichnungen, die männlich sind, wie z.B. Pilotin, Schlosserin, Redakteurin, Chefin, Kanzlerin usw. Man darf nicht außer Acht lassen, dass der Ursprung vom -in Suffix bis ins Althochdeutsche (ca. 750–1050) zurückreicht (friuntin = Freundin).

Man muss noch anmerken, dass es auch den umgekehrten Weg mit der Bildung von maskulinen Substantiven zu femininen Entsprechungen mit Hilfe dem Suffix -er gibt: Witwe-Witwer; Hexe-Hexer usw. Movierte Maskulina sind selten und bezieht sich fast ausschließlich auf Tierbezeichnungen.


Allerdings gibt es ein konkretes Problem mit -lingSubstantiven, die normalerweise maskuline Personenbezeichnungen bilden. Das Suffix -in ist mit -ling-Substantiven wie Flüchtling, Säugling, Prüfling, Lehrling usw. nicht kombinierbar: „gleichgültig welchen Typ von Substantiv auf -ling man nimmt, eine Suffigierung mit -in ist ausgeschlossen“ (Eisenberg/Sayatz 2002: 152). Das Sprachsystem lässt hier die Movierung nicht zu.

Im Gegensatz dazu sagen Fleischer und Barz (2012: 237), dass –in Suffix mit -ling kombinierbar sein kann, „obwohl hier eher den Charakter des Okkasionellen tragend“: Ankömmlingin, Flüchtlingin, Jünglingin, Fremdlingin usw. (Ljungerud 1973: 150). Zu ihrer Verteidigung kann jedoch gesagt werden, dass im aktuellsten DWDS-Korpus (die Zeit 1946-2018) das Suffix -lingin bei 6 Treffern liegt. Daraus kann man schließen, dass die Bildungen auf -lingin nicht systematisch ausgeschlossen, aber „im heutigen Sprachgebrauch vermieden“ (Rummel 2017: 127) werden.

Eisenberg und Sayatz (2002: 152) halten -lingin-Bildungen für „morphologisch nicht wohlgeformt“. Dies lässt sich auch semantisch durch den sogenannten „generischen Maskulinum“ erklären: „Gruppen von Personen, die Frauen und Männer einschließen. Weibliche Personen gelten als mitgemeint“ (Diewald/Steinhauer 2017: 26). Tatsächlich „sind 99 Staatsbürgerinnen und ein Staatsbürger auf Deutsch 100 Staatsbürger“ (Pusch 1999: 10). Deswegen kommen Ausdrücke wie Flüchtlingin sehr selten vor.


Substantivierte Adjektive und Partizipien erlauben eine Lösung für diese Restriktion: der/die Geflüchtete anstelle von Flüchtlingin. Das grammatische Geschlecht erlaubt, die feminine Form durch einen Artikel zu bilden. Jedoch ist das grammatische Genus im Plural automatisch neutralisiert und die Personenbezeichnung wird damit genderneutrale: die Geflüchteten. Man kann daher ein feminines Adjektiv hinzufügen: die weiblichen Geflüchteten.

Neben -in findet man auch andere Suffixe, die der Movierung dienen: -ess (Stewardess), -esse (Baronesse), -ine (Heroine), -ice (Direktrice), -euse (Masseuse), -eurin (Friseurin).

Außerdem findet man spezifische Suffixe, wie -frau (Feuerwehrfrau); weibchen (Kobraweibchen); -dame (Gesellschaftsdame); mädchen (Stübenmädchen), schwester (Krankenschwester). Diewald und Steinhauser (2017: 39ff.) geben auch andere Lösungen, um die Anwesenheit der Frauen in der Sprache anzuzeigen:

  • Doppelnennung: der Schüler und die Schülerin
  • Bindestrich:        Arzt/Ärztin
  • Grosses I:            LehrerInnen
  • Sternchen:          Lehrer*innen
  • Unterstrich:        Lehrer_innen
  • Klammer:          Lehrer(in).

Wir haben gesehen, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, die feminine Entsprechung zu einem maskulinen Substantiv zu bilden. Das Suffix -in ist als das produktivste betrachtet, aber führt zu einigen Problemen. Die Movierung konzentriert sich hauptsächlich auf Berufsbezeichnungen. Man kann sich daher fragen, ob es nicht die beste Lösung ist, Berufsbezeichnungen ohne Sexusunterscheid mit den Suffixoid -hilfe (Küchenhilfe) oder -kraft (Lehrkraft) zu bilden.

 

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Bis bald,

Dein David


Quellen

  • Diewald, von Gabriele/Steinhauer, Anja (2017): Richtig gendern. Berlin: Dudenverlag.
  • Eisenberg, Peter/Sayatz, Ulrike (2002): Kategorienhierarchie und Genus. Zur Abfolge der Derivationssuffixe im Deutschen. In: Agel, Herzog (Hrsg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik. Budapest: G-U-G, 137-156
  • Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild 2012): Wortbildung der Deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. Berlin: De Gruyter Studium.
  • Kotthof, Helga/Nübling, Damaris (2018): Genderlinguistik. Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen: Narr-Studienbücher.
  • Ljungerud, Ivar (1973): Bemerkungen zur Movierung in der deutschen Gegenwartssprache. Eine positivistische Skizze. In: Moser (Hrsg.) Linguistische Studien 3. Festgabe für Paul Grebe zum 65. Geburtstag. Düsseldorf: Schwann, 145-162.
  • Pusch, Luise (1999): Die Frau ist nicht der Rede wert. Frankfurt am Main: Suhrkamp.